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Obwohl ich gemerkt hatte, dass mit meiner Schwester etwas nicht stimmte, war ich überrascht. Ich war immer sicher gewesen, sie führe mit ihrem Mann Jeff eine glückliche Ehe. Beide waren zuvor verheiratet gewesen, doch diese Beziehung schien von Dauer zu sein. Jeff hatte aus vergangener Ehe drei Kinder, Jill hatte vier. Ihr jüngster Sohn Paul war der einzige, der noch zu Hause wohnte.

„Was ist los?“ fragte ich.

„Es ist seltsam, und ich weiß auch gar nicht, wo ich anfangen soll“, erwiderte sie. „Jeff verhält sich sehr merkwürdig, und ich halte es nicht mehr viel länger aus. Wir sind an einem Punkt, an dem wir nicht mehr miteinander reden können. Es bringt mich um. Er hat sich vollkommen von mir abgewandt und sagt, alles sei meine Schuld.“

„Sprich Dich aus“, sagte ich und sah zu John, der die Augen verdrehte. Er hatte die beiden vor seinem Flug nach Atlanta eine Woche lang besucht, und ich schloss aus seiner Miene, dass er von dem Thema vorerst genug hatte.

„Erinnerst Du Dich an Jeffs älteste Tochter Lorraine?“ fragte Jill. Ich nickte. „Ihr Mann starb vor etwa einem Jahr bei einem Autounfall. Seitdem hat sich zwischen ihr und Jeff diese äußerst seltsame Beziehung entwickelt. Jedes Mal, wenn sie anruft, überschlägt er sich fast und umschmeichelt sie, nennt sie ,Liebes‘ und tuschelt stundenlang mit ihr. Man könnte denken, sie seien verliebt – und nicht Vater und Tochter. Wenn er bei ihrem Anruf gerade beschäftigt ist, lässt er alles stehen und liegen, um mit ihr zu reden. Wenn sie zu uns nach Hause kommt, verhält er sich genauso – wenn nicht schlimmer. Sie hocken zusammen, flüstern nur miteinander und schließen alle anderen aus – besonders mich. Ich kann es kaum ertragen. Ich habe das Gefühl, sie ist das Wichtigste in seinem Leben geworden, und ich spiele so gut wie keine Rolle mehr. Ich fühle mich total ausgeschlossen und missachtet.“

Sie erzählte weiter und schilderte mehr Details der seltsamen Familiendynamik, die sich da entwickelt hatte. JoAnna und ich hörten aufmerksam zu. Wir waren verständnisvoll und mitfühlend; wir erörterten mögliche Ursachen von Jeffs Verhalten und machten Jill Vorschläge, wie sie mit ihm darüber sprechen könnte. Kurz: wir versuchten, Lösungsmöglichkeiten zu finden, wie dies ein besorgter Bruder und eine Schwägerin so tun. John half mit und bot ebenfalls seine Sicht der Situation dar.

Was mir seltsam und verdächtig vorkam, war das untypische Verhalten von Jeff. Der Jeff, den ich kannte, war liebevoll zu seinen Töchtern und sicherlich abhängig genug, um ihre Bestätigung und Liebe sehr zu brauchen. Doch ich hatte sein Verhalten niemals so gesehen, wie Jill es beschrieb. Ich kannte ihn als fürsorglich und liebevoll gegenüber Jill. Ich konnte kaum glauben, dass er sie nun so grausam behandelte. Es war für mich klar, dass diese Situation Jill unglücklich machte und Jeffs Beharren darauf, sie bilde sich alles nur ein, für sie alles noch verschlimmerte.

Die Unterhaltung setzte sich den ganzen nächsten Tag fort. Ich begann eine Vorstellung davon zu bekommen, was sich aus der Perspektive der Radikalen Vergebung zwischen Jill und Jeff abspielte. Doch ich beschloss, dies nicht zu erwähnen – jedenfalls nicht sofort. Sie war zu befangen in dem Drama der Situation und wäre so nicht in der Lage gewesen, zu hören und zu verstehen. Radikale Vergebung basiert auf einer umfassenden spirituellen Perspektive, die damals, als wir noch zusammen in England lebten, ganz und gar nicht zu unserer gemeinsamen Lebenswirklichkeit gehörte. Ich war mir sicher, dass sie und John so gut wie nichts über meine Ideen und Vorstellungen bezüglich Radikaler Vergebung wussten. Ich hatte das bestimmte Gefühl, es sei noch nicht an der Zeit, einen so schwierigen Gedanken zu äußern wie: dass alles so, wie es ist, vollkommen ist – und eine Gelegenheit zu heilen.

Nachdem wir zwei Tage das Problem immer wieder gewälzt hatten, entschied ich, dass die Zeit reif sei, Radikale Vergebung anzusprechen. Dazu musste sich allerdings meine Schwester der Möglichkeit öffnen, dass etwas in ihrem Leben geschah, das über das Offensichtliche hinausging – etwas Sinnvolles, von göttlicher Instanz geleitet und ihrem höheren Wesen dienend. Doch noch war sie überzeugt, das Opfer der Situation zu sein. So war fraglich, ob sie bereit war, eine Version von Jeffs Verhalten zu hören, die sie aus dieser Rolle befreien konnte.

Als meine Schwester jedoch begann, die Version vom Vortag zu wiederholen, entschloss ich mich, einzuschreiten. Vorsichtig sagte ich: „Jill, wärst du gewillt, die Situation aus einer neuen Perspektive zu betrachten? Könntest Du mir zuhören, wenn ich Dir eine völlig andere Deutung der Ereignisse vorstelle?“

Sie schaute mich an, als wollte sie sagen: ‘Wie soll es möglich sein, dass man die Dinge anders interpretieren kann. Es ist so, wie es ist.‘ Jill und ich haben jedoch eine gemeinsame Geschichte; in der Vergangenheit hatte ich ihr bei der Lösung eines Beziehungsproblems geholfen. Also vertraute sie mir genügend, um zu erwidern: „Meinetwegen. Was schwebt Dir vor?“

Dies war das Stichwort, auf das ich gewartet hatte. „Was ich dir sagen will, klingt vielleicht etwas seltsam, aber warte bitte mit deinem Widerspruch, bis ich ausgeredet habe. Bleib einfach offen für die Möglichkeit, dass alles, was ich sage, stimmt; sieh, ob es für dich am Ende Sinn macht.“

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte John zwar versucht, Jill zuzu-hören, doch das sich ständig wiederholende Gespräch über Jeff hatte ihn allmählich gelangweilt. Am Ende hörte er ihr überhaupt nicht mehr zu. Ich merkte jedoch, dass er nun plötzlich die Ohren spitzte.

„Was du uns beschrieben hast, Jill, entspricht sicher der Wahrheit, wie du sie siehst“, begann ich. „Ich bezweifle nicht, dass alles so geschieht, wie du es erzählst. Außerdem hat John die Situation in den letzten drei Wochen mit eigenen Augen gesehen und bestätigt deine Version. Stimmt’s John?“, fragte ich meinen Bruder.

„Absolut“, bestätigte John. „Es ist wirklich genau so, wie Jill sagt. Ich fand das auch recht seltsam, und ich fühlte mich ehrlich gesagt die ganze Zeit ziemlich fehl am Platze.“

„Kein Wunder“, sagte ich. „Jedenfalls sollst du wissen, Jill, dass nichts, was ich gleich sagen werde, deine Geschichte verneinen oder entkräften soll. Ich glaube, dass es genau so geschehen ist, wie du es sagst. Ich will dich nur darauf aufmerksam machen, dass unter der Oberfläche noch etwas anderes vor sich geht.“

„Was meinst du mit ‘unter der Oberfläche‘“, fragte Jill misstrauisch.

„Es ist völlig natürlich anzunehmen, dass das, was da draußen ist, die ganze Wirklichkeit darstellt“, erklärte ich. „Doch möglicherweise spielt sich hinter dieser Realität noch viel mehr ab. Wir nehmen nur nichts weiter wahr, weil unsere fünf Sinne dazu einfach nicht ausreichen. Das heißt jedoch nicht, dass es nicht so ist.“

„Zum Beispiel in deinem Fall. Du und Jeff, Ihr seid in dieses Drama verwickelt. Soviel ist klar. Wie wäre es jedoch, wenn sich hinter diesem Drama etwas abspielen würde, was spiritueller ist – dieselben Menschen und dieselben Ereignisse – aber mit einer gänzlich anderen Bedeutung? Wie wäre es, wenn eure beiden Seelen denselben Tanz aufführen würden, jedoch zu einer völlig anderen Melodie? Wie wäre es, wenn dieser Tanz sich um deine Heilung drehen würde? Wir wäre es, wenn du das Ganze als eine Gelegenheit zur Heilung und zum Wachstum sehen könntest? Das wäre eine völlig andere Perspektive, oder?“

Beide, sie und John, sahen mich an, als käme ich von einem anderen Stern. Ich beschloss, die Situation nicht weiter zu erklären, sondern direkt zur Erfahrung überzugehen.

„Schau einmal auf die vergangenen drei Monate zurück, Jill“, fuhr ich fort. „Was hast du hauptsächlich gespürt, als du sahst, wie sich Jeff so liebevoll gegenüber seiner Tochter Lorraine verhält?“

„Überwiegend Ärger“, begann sie, dachte aber weiter nach. „Frustration“, fügte sie hinzu. Dann, nach einer langen Pause: „Und Trauer. Ich bin wirklich traurig.“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich fühle mich so allein und ungeliebt“, sagte sie und begann, still zu schluchzen. „Es wäre alles nicht so schlimm, wenn ich annehmen würde, dass er keine Liebe zeigen kann. Aber er kann es, und er tut es – aber mit ihr!“

Die letzten Worte schrie sie fast, erregt und wütend. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft verlor sie die Beherrschung und begann zu schluchzen. Sie hatte vorher ein paar Tränen vergossen, aber sie hatte sich immer beherrscht und nicht richtig geweint. Nun konnte sie endlich loslassen. Ich freute mich, dass Jill so schnell Zugang zu ihren Gefühlen gefunden hatte.

Ganze zehn Minuten verstrichen, bis sie aufhörte zu weinen und ich das Gefühl hatte, dass sie sprechen konnte. An diesem Punkt fragte ich: „Jill, kannst du dich erinnern, ob du dich jemals so gefühlt hast, als du noch ein kleines Mädchen warst?“ Ohne einen Moment zu zögern, sagte sie: „Ja“. Sie sagte nichts weiter, also bat ich sie, es zu erklären. Sie brauchte eine Weile für die Antwort.

„Mein Daddy wollte mir auch keine Liebe geben!“ platzte sie schließlich heraus und begann wieder zu weinen. „Ich wollte, dass er mich liebt, aber er wollte nicht. Ich dachte, er könne niemanden lieben! Dann kam deine Tochter, Colin. Er liebte sie. Aber warum konnte er mich nicht lieben? Verdammt noch mal!“ Sie schlug hart mit der Faust auf den Tisch, als sie diese Worte herausschrie, und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Jill bezog sich auf meine älteste Tochter Lorraine. Zufällig hatten sie und Jeffs älteste Tochter denselben Namen. Oder war es mehr als ein Zufall?

Zu weinen tat Jill gut. Ihre Tränen lösten ihre Gefühle und waren möglicherweise ein Wendepunkt für sie. Ich dachte, ein echter Durchbruch könne nun nicht mehr weit entfernt sein. Ich musste ihr nur noch ein paar Anstöße geben.

„Erzähl mir über den Vorfall mit meiner Tochter Lorraine und Vater“, sagte ich.

Jill raffte sich auf und sagte: „Ich fühlte mich von meinem Vater immer ungeliebt und hatte immer Sehnsucht nach seiner Liebe. Niemals hielt er meine Hand, und nur selten nahm er mich auf den Schoß. Immer hatte ich das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmt. Als ich älter war, sagte mir meine Mutter, mein Vater könne niemanden lieben, nicht einmal sie. In diesem Moment fand ich mich mehr oder weniger damit ab. Wenn er wirklich niemanden lieben konnte, war es vielleicht nicht mein Fehler, dass er mich nicht liebte. Er liebte wirklich niemanden. Er machte sich nicht einmal viel aus meinen Kindern – seinen eigenen Enkelkindern – geschweige denn aus Menschen, die nicht zur Familie gehörten. Er war jedoch kein schlechter Vater. Er konnte nur nicht lieben. Er tat mir leid.“

Sie weinte ein wenig mehr und nahm sich diesmal etwas mehr Zeit. Ich wusste, was sie meinte, als sie von unserem Vater sprach. Er war ein freundlicher und zartfühlender Mann, sehr still und zurückgezogen. Er schien meist für niemanden emotional zugänglich zu sein.

Als Jill sich wieder etwas gefangen hatte, fuhr sie fort: „Ich erinnere mich an einen bestimmten Tag bei uns zu Hause. Deine Tochter Lorraine war etwa vier oder fünf Jahre alt. Mom und Dad waren aus Leicester zu Besuch, und wir alle kamen zu euch nach Hause. Ich sah, wie Lorraine Dad an der Hand nahm. Sie sagte: ‘Komm Opa, ich zeige dir den Garten und alle meine Blumen.‘ Er war wie Wachs in ihren Händen. Sie führte ihn überall hin und redete und redete und redete und zeigte ihm alle Blumen. Sie umgarnte ihn. Ich beobachtete sie die ganze Zeit aus dem Fenster. Als sie wieder hereinkamen, setzte er sie auf seinen Schoß und war so verspielt und gutgelaunt, wie ich ihn niemals erlebt hatte.“

„Ich war völlig niedergeschlagen. Also kann er doch lieben, dachte ich. Wenn er Lorraine lieben konnte, warum dann nicht mich?“ Die letzten Worte waren ein Flüstern, gefolgt von vielen Tränen voller Kummer und Trauer. Tränen, die sie all die Jahre aufgestaut hatte.

Ich hatte den Eindruck, wir hätten vorerst genug getan, und schlug vor, einen Tee zu machen. (Wir sind Engländer und trinken bei jeder Gelegenheit Tee.)

Vom Standpunkt der Radikalen Vergebung aus betrachtet war Jeffs seltsames Verhalten unbewusst darauf ausgerichtet, Jill zu helfen, die unverarbeitete Beziehung mit ihrem Vater zu heilen. Wenn sie dies sehen und die Vollkommenheit von Jeffs Verhalten erkennen könnte, würde ihre Verletzung heilen – und Jeffs Verhalten sich höchstwahrscheinlich ändern. Ich war mir jedoch nicht sicher, wie ich dies Jill auf eine ihr momentan einleuchtende Weise erklären konnte. Glücklicherweise brauchte ich es gar nicht erst zu versuchen. Sie kam ganz von selbst auf diesen offensichtlichen Zusammenhang.

Später an diesem Tag fragte sie mich: „Colin, findest du es nicht auch seltsam, dass Jeffs und deine Tochter denselben Namen haben? Und mehr noch: Beide sind blond und sind die ältesten Kinder. Ist das nicht ein seltsamer Zufall! Glaubst du, dass es da einen Zusammenhang gibt?“

Ich lachte und erwiderte: „Mit Sicherheit. Dies ist der Schlüssel zum Verständnis der gesamten Situation.“

Sie sah mir lange tief in die Augen. „Was meinst du damit?“

„Das musst du schon selbst herausfinden“, erwiderte ich. „Siehst du noch mehr Ähnlichkeiten zwischen dieser Situation mit Dad und meiner Lorraine und deiner gegenwärtigen Situation?“

„Mal sehen …“, sagte Jill. „Beide Mädchen haben denselben Namen. Beide scheinen in ihrem Leben das zu bekommen, was ich von den Männern in meinem Leben niemals bekam.“

„Was ist das?“ fragte ich nach.

„Liebe“, flüsterte sie.

„Sprich weiter“, forderte ich sie vorsichtig auf.

„Es scheint, dass deine Lorraine von Dad die Liebe bekommt, die ich nicht bekam. Und Jeffs Tochter Lorraine bekommt von ihrem Dad auch alle Liebe, die sie will – aber auf meine Kosten. O Gott!“ rief sie aus. Anscheinend begann sie zu verstehen.

„Aber warum? Ich sehe die Ursache nicht. Es ist etwas beängstigend. Was geht da vor?“ fragte sie in Panik.

Es war Zeit, das Puzzle für sie zusammenzusetzen. „Lass mich erklären, wie es funktioniert“, sagte ich. „Dies ist ein perfektes Beispiel dafür, dass – wie ich vorhin sagte – eine völlig andere Realität hinter dem Drama, das wir ‚Leben‘ nennen, steht. Glaub’ mir, es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest. Wenn du siehst, wie es funktioniert, wirst du mehr Vertrauen, mehr Sicherheit und mehr inneren Frieden spüren, als du es jemals für möglich gehalten hättest. Du wirst erkennen, wie wir durch das Universum oder Gott, wie auch immer du es nennen willst, getragen werden, in jedem Moment jeden Tages, ganz gleich, wie schlimm uns die Lage erscheinen mag“, sagte ich so zuversichtlich, wie ich konnte.

„Aus spiritueller Perspektive betrachtet, ist unsere Unzu-friedenheit mit einer gegebenen Situation ein Zeichen dafür, dass wir spirituell aus dem Gleichgewicht geraten sind und sich uns eine Gelegenheit bietet, etwas zu heilen. Es kann ein echter Schmerz sein oder auch ein vergifteter Gedanke, der uns davon abhält, unser wahres Selbst zu sein. Wir sehen es jedoch häufig nicht aus dieser Perspektive. Stattdessen beurteilen wir die Situation und machen andere dafür verantwortlich, was geschieht. Dies hält uns davon ab, die Botschaft zu verstehen und unsere Lektion zu lernen. Es verhindert unsere Heilung. Wenn wir nicht heilen, was geheilt werden muss, bleibt uns nichts anderes übrig, als weitere Unzufriedenheit zu erzeugen, bis wir buchstäblich gezwungen sind, uns zu fragen: ‚Was geht hier eigentlich vor?‘ Manchmal muss die Botschaft sehr laut sein oder der Schmerz unerträglich, bevor wir anfangen hinzuschauen. Eine lebensbedrohliche Krankheit etwa ist eine deutliche Botschaft. Doch manche Menschen sehen den Zusammenhang zwischen dem aktuell Geschehenden und der Chance zur Heilung selbst im Angesicht des Todes nicht.“

„In deinem Fall ist das zu Heilende dein alter Schmerz hinsichtlich deines Vaters und der Tatsache, dass er dir niemals Liebe zeigte. Darum geht es bei deinem aktuellen Schmerz und deiner Unzufriedenheit. Dieser Schmerz entstand immer wieder, in den verschiedensten Situationen. Aber da du die Gelegenheit nicht erkanntest, konnte die Verletzung nicht heilen. Daher ist es ein Geschenk, wenn der Schmerz nun wiederkommt und dir Gelegenheit gibt, hinzusehen und Gesundung zu ermöglichen.“

„Ein Geschenk?“ fragte Jill. „Du meinst, es ist ein Geschenk, weil darin eine Botschaft für mich enthalten ist? Eine Botschaft, die ich schon vor langer Zeit hätte erhalten sollen, wenn ich sie nur verstanden hätte?“

„Genau“, sagte ich. „Hättest du es damals verstanden, wäre deine Unzufriedenheit geringer gewesen, und du müsstest nicht durch das gegenwärtige Leiden gehen. Doch es spielt keine Rolle. Jetzt ist es auch gut. Es ist perfekt. Du brauchst keine lebensbedrohliche Krankheit, um zu begreifen, wie es so viele Menschen tun. Du beginnst, es zu verstehen – und zu heilen.“

„Lass mich dir einmal genau erklären, was geschehen ist und wie es dein Leben bis heute beeinflusst hat“, sagte ich. Ich wollte, dass sie die Dynamik ihrer gegenwärtigen Situation klar vor Augen hatte.

„Als kleines Mädchen fühltest du dich verlassen und ungeliebt von deinem Dad. Dies ist eine niederschmetternde Erfahrung. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist es notwendig für ein junges Mädchen, sich vom Vater geliebt zu fühlen. Da du diese Liebe nicht gefühlt hast, hast du daraus geschlossen, dass etwas mit dir nicht stimmt. Du begannst, wirklich daran zu glauben, dass du nicht liebenswert und nicht gut genug bist. Dieser Glaube verankerte sich tief in deinem Unterbewusstsein und begann später – als es zu Beziehungen kam – dein Leben zu ruinieren. In gewisser Weise kam es immer wieder zur Bestätigung dieser unbewussten Überzeugung: Es gab in deinem Leben genügend Situationen, die dir vorspiegelten, du seist in der Tat nicht gut genug. Unser Leben wird immer unsere Überzeugungen bestätigen.“

„Für dich als Kind war der Schmerz, die Liebe deines Vaters nicht zu bekommen, mehr, als ein Kind ertragen konnte. Also hast du einen Teil des Schmerzes – und damit noch viel mehr – unterdrückt. Wenn man ein Gefühl unterdrückt, weiß man, dass es da ist, aber man frisst es in sich hinein. Unterdrückte Gefühle werden so tief im Unterbewusstsein vergraben, dass man sich ihrer nicht mehr bewusst ist.“

„Später, als du merktest, dass dein Vater von Natur aus kein liebevoller Mensch ist und wahrscheinlich niemanden lieben konnte, begannst du dich etwas davon zu erholen, nicht von ihm geliebt zu werden. Du begannst zu heilen. Wahrscheinlich hast du begonnen, einen Teil des unterdrückten Schmerzes loszulassen und einen Teil deiner Überzeugungen aufzugeben, dass du nicht liebenswert bist. Wenn er wirklich niemanden lieben konnte, war es vielleicht doch nicht dein Fehler, dass er dich nicht liebte.“

„Doch in diesem Moment platzte die Bombe, die dich wieder ganz zum Anfang zurück warf. Als du beobachtetest, wie er meine Lorraine liebte, löste dies in dir deine ursprüngliche Überzeugung wieder aus. Du sagtest dir, ‚mein Vater kann doch lieben, aber er liebt nicht mich. Es ist offensichtlich doch mein Fehler. Ich bin meinem Vater nicht gut genug, und ich werde niemals für einen Mann gut genug sein.‘ Von diesem Zeitpunkt an führtest du immer wieder Situationen herbei, die dich in der Überzeugung bekräftigten, nicht gut genug zu sein.“

„Wie habe ich das gemacht?“ unterbrach mich Jill. „Ich kann nicht erkennen, wie ich es geschafft habe, in meinem Leben nicht gut genug zu sein.“

„Wie war deine Beziehung zu Henry, deinem ersten Mann?“ erwiderte ich. Sie war mit Henry, dem Vater ihrer vier Kinder, 15 Jahre lang verheiratet gewesen.

„In vieler Hinsicht nicht schlecht, doch er war so untreu. Er suchte immer nach Gelegenheiten, mit anderen Frauen Sex zu haben, und ich fand das furchtbar.“

„Genau. Und du sahst ihn als den Bösen und dich als das Opfer in der Situation. Die Wahrheit ist jedoch, dass du ihn genau deshalb in deinem Leben angezogen hast, weil du auf einer bestimmten Ebene wusstest, dass er deine Überzeugung, nicht gut genug zu sein, bestätigen würde. Indem er untreu war, bekräftigte er dich in dieser Selbsteinschätzung.“

„Willst du damit sagen, dass er mir einen Gefallen getan hat? Das kaufe ich dir so nicht ab!“ sagte sie lachend, aber gleichzeitig mit einer Spur unübersehbaren Ärgers.

„Zumindest hat er dich in deinem Glauben bestärkt, oder nicht?“ erwiderte ich. „Du warst so deutlich nicht gut genug, dass er sich immer nach anderen, besseren Frauen umschaute. Wenn er das Gegenteil getan und dich ständig so behandelt hätte, als seiest du vollkommen genug, hättest du in deinem Leben ein anderes Drama erschaffen, um deine Überzeugung zu bekräftigen. Deine Überzeugungen über dich selbst, selbst wenn sie völlig unzutreffend waren, machten es dir unmöglich, gut genug zu sein.“

„Ebenso hätte Henry wahrscheinlich sofort aufgegeben, sich an deine Freundinnen heran zu machen, wenn du damals deine Überzeugung geändert hättest, indem du deinen ursprünglichen Schmerz um deinen Vater geheilt und dein Selbstwertgefühl in gut genug geändert hättest. Wenn er es nicht aufgegeben hätte, dann hättest du wahrscheinlich überhaupt kein Problem damit gehabt, ihn zu verlassen – um jemand anderen zu finden, der dich so behandelt, als seiest du gut genug. Wir erzeugen uns immer unsere eigene Realität gemäß unseren Überzeugungen. Wenn du deine Glaubensmuster kennenlernen möchtest, dann schau dir an, was du in deinem Leben hast. Unser Leben ist immer ein Spiegelbild unserer Überzeugungen.“

Jill schien ein wenig verwundert, also beschloss ich, einiges noch etwas genauer zu beschreiben. „Jedes Mal, wenn Henry dich betrog, gab er dir die Gelegenheit, deinen alten Schmerz zu heilen. Dein alter Schmerz war der, von deinem Vater nicht geliebt zu werden. Henry stellte deine Überzeugung, niemals gut genug für einen Mann zu sein, unter Beweis und agierte sie für dich aus. Die ersten Male, als dies geschah, warst du wahrscheinlich so wütend und aufgeregt, dass du leicht mit deinem alten Schmerz hättest in Kontakt kommen und mit deinen Überzeugungen über dich selbst vertraut werden können. Als Henry dich die ersten Male betrog, waren dies die ersten Gelegenheiten, Radikale Vergebung zu üben und deine alte Verletzung zu heilen. Doch du hast diese Chancen verpasst. Du beschuldigtest ihn jedes Mal und schlüpftest in die Opferrolle. So wurde Heilung unmöglich.“

„Was meinst du mit Vergebung?“ fragte Jill sehr besorgt. „Meinst du, ich hätte ihm verzeihen sollen, als er meine beste Freundin und alle möglichen anderen Frauen verführte?“

„Ich meine, er gab dir damals eine Gelegenheit, mit deinem alten Schmerz in Kontakt zu kommen und zu sehen, dass eine bestimmte Überzeugung über dich selbst dein Leben beherrscht. Indem er dies tat, gab er dir die Gelegenheit, deine Überzeugungen zu verstehen und zu verändern und damit deine ursprüngliche Verletzung zu heilen. Das meine ich mit Vergebung. Kannst du erkennen, dass Henry deine Vergebung verdient?“

„Ja, ich glaube, ich kann“, sagte sie. „Er spiegelte jene Überzeugung wider, in die ich mich geflüchtet hatte, weil ich mich von Dad ungeliebt fühlte. Er bestätigte mir, dass ich nicht gut genug war. Ist es das, was du meinst?“

„Ja, und dafür, dass er dir diese Gelegenheit gab, verdient er Anerkennung – mehr, als dir im Augenblick bewusst ist. Wir wissen nicht, ob er sein Verhalten geändert hätte, wenn du dein Problem mit deinem Dad damals hättest auflösen können. Oder ob du ihn vielleicht verlassen hättest. In jedem Fall wäre er dir eine große Hilfe gewesen. In diesem Sinn verdient er nicht nur deine Vergebung, sondern sogar deine Dankbarkeit. Und – weißt du was? Es war nicht sein Fehler, dass du die wahre Botschaft hinter seinem Verhalten nicht erkanntest.“

„Es ist sicher nicht leicht für dich, es so zu sehen: dass er versuchte, dir ein großes Geschenk zu machen. Wir haben nicht gelernt, es so zu sehen. Wir haben nicht gelernt, auf das Geschehen zu schauen und zu sagen: ‘Sieh mal an, was ich in meinem Leben erschaffen habe. Ist das nicht interessant?‘ Stattdessen haben wir gelernt, zu urteilen, zu beschuldigen und anzuklagen. Wir haben gelernt, Opfer zu sein und Vergeltung zu suchen. Nicht erworben haben wir den Glauben daran, dass unser Leben von Kräften gelenkt wird, die über unser bewusstes Denken hinausgehen. Nicht erworben haben wir das Wissen darum, was in Wirklichkeit der Fall ist.“

„Tatsächlich war es nämlich Henrys Seele, die versucht hat, dich zu heilen. An der Oberfläche hat Henry nur seine sexuelle Leidenschaft ausgelebt. Doch seine Seele – die mit deiner Seele zusammenarbeitete – setzte diese Leidenschaft für dein spirituelles Wachstum ein. Diese Erkenntnis ist Radikale Vergebung. Der Sinn der Radikalen Vergebung liegt darin, die Wahrheit unter der Oberfläche der jeweiligen Lebensumstände zu sehen und jene Liebe zu erkennen, die dort jederzeit herrscht.“

Ich spürte, dass Jill die beschriebenen Prinzipien besser verstehen würde, wenn wir eine Beziehung zur aktuellen Situation herstellten. Also forderte ich sie auf: „Lass uns noch einmal auf Jeff zurückkommen und sehen, wie diese Prinzipien in deiner gegenwärtigen Beziehung aktiv sind. Am Anfang ist Jeff extrem liebevoll mit dir umgegangen. Er schwärmte für dich, tat alles für dich, kommunizierte mit dir. An der Oberfläche schien das Leben mit Jeff ziemlich gut zu sein.“

„Denk’ jedoch daran, dass dies nicht zu dem Bild passte, was du von dir selbst hattest – deinem Glauben über dich selbst. Danach durftest du keinen Mann haben, der dir soviel Liebe entgegenbringt. Schließlich bist du ja nicht gut genug.“

Jill nickte zustimmend, aber wirkte noch immer unsicher und ziemlich perplex.

„Deine Seele weiß, dass du diese Überzeugung heilen musst, also verbündet sie sich mit Jeffs Seele, um es dir deutlich zu machen. An der Oberfläche scheint es, als würde Jeff anfangen, sich seltsam und ungewöhnlich zu verhalten. Dann verhöhnt er dich, indem er eine andere Lorraine liebt und so dasselbe Theater veranstaltet, das du vor vielen Jahren mit deinem Vater durchlitten hast. Er scheint dich gnadenlos zu verfolgen, und du fühlst dich vollkommen hilflos und als Opfer. Beschreibt dies mehr oder weniger deine gegenwärtige Situation?“ fragte ich.

„Ich glaube schon“, sagte Jill leise. Sie runzelte etwas die Stirn, als versuche sie, das neue Bild ihrer Situation allmählich klar zu sehen.

„Nun, es ist mal wieder soweit. Du hast die Wahl. Du kannst dich entscheiden, zu heilen und zu wachsen – oder Recht zu haben“, sagte ich und lächelte sie an.

„Wenn du die Wahl triffst, die Leute normalerweise treffen, wirst du dich dafür entscheiden, lieber das Opfer zu sein und Jeff zu beschuldigen. Das ermöglicht es dir, im Recht zu sein. Schließlich scheint sein Verhalten ziemlich grausam und ungerecht. Es gibt zweifellos viele Frauen und Männer, die dich dabei unterstützen würden, solltest du als Reaktion darauf drastische Schritte einleiten. Haben nicht die meisten deiner Freunde gesagt, du solltest ihn verlassen?“

„Ja. Alle meinen, ich solle diese Ehe beenden, wenn er sich nicht ändert. Ich hatte eigentlich gedacht, du würdest das auch sagen“, sagte sie mit einem enttäuschten Unterton.

„Vor ein paar Jahren hätte ich es wahrscheinlich auch getan“, sagte ich und lachte. „Seit meiner Einführung in diese spirituellen Prinzipien hat sich meine Sichtweise solcher Situationen jedoch geändert, wie du sehen kannst“, erklärte ich und lächelte John verschmitzt an. Er lächelte zurück, schwieg aber.

Ich fuhr fort: „Du hast es sicher bereits vermutet. Die Alternative besteht darin, anzuerkennen, dass unter der Oberfläche des Geschehens noch etwas weitaus Bedeutenderes – und möglicherweise sehr Nützliches – vor sich geht. Die Alternative besteht also darin, anzuerkennen, dass Jeffs Verhalten eine andere Botschaft beinhaltet, eine andere Bedeutung und Absicht; und dass sich in der Situation ein Geschenk für dich verbirgt.“

Jill dachte eine Weile nach und sagte dann: „Jeffs Verhalten ist so daneben, dass man sich schon ziemlich anstrengen muss, um eine vernünftige Erklärung dafür zu finden. Vielleicht geht da ja noch etwas vor sich, das ich momentan nicht sehe. Ich nehme an, es ist so ähnlich wie damals mit Henry. Doch es fällt mir schwerer, es bei Jeff zu sehen, weil ich im Moment so verwirrt bin. Ich kann nicht über das Geschehen hinaussehen.“

„Das ist in Ordnung“, versicherte ich ihr. „Du musst es nicht unbedingt herausfinden. Es reicht, wenn du bereit bist zuzugestehen, dass da noch etwas anderes stattfindet. Das ist schon ein großer Schritt. Die Bereitschaft, die Situation aus einer anderen Perspektive zu sehen, ist der Schlüssel zu deiner Heilung. Neunzig Prozent der Heilung geschehen in dem Moment, da du bereit bist, den Gedanken zuzulassen, dass deine Seele diese Situation in liebender Absicht für dich erzeugt hat. Durch diese Bereitschaft gibst du die Kontrolle ab an Gott. Er übernimmt die restlichen zehn Prozent. Wenn du auf einer tiefen Ebene die Einsicht, dass Gott dies für dich übernimmt, wirklich zulässt, dann brauchst du überhaupt nichts mehr zu tun. Die Lösung der Situation und deine Heilung werden sich automatisch ergeben.“

Du kannst jedoch bereits vor diesem Schritt einen anderen, völlig rationalen Schritt machen. Er ermöglicht dir, die Dinge sofort in einem anderen Licht zu betrachten. Dies beinhaltet, dass du die Tatsachen von der Fantasie unterscheidest. Es beinhaltet die Erkenntnis, dass deine Überzeugung keinerlei wirkliche, auf Tatsachen gründende Basis hat. Deine Überzeugung ist nichts anderes als eine von dir erfundene Fantasie – basierend auf einigen wenigen Erfahrungen und viel Interpretation.“

„Wir tun dies die ganze Zeit. Wir erleben ein Ereignis und stellen unsere Interpretationen an. Dann fügen wir beides zusammen und erfinden eine größtenteils unzutreffende Geschichte des Geschehens. Die Geschichte wird zum Glaubensmuster, und wir verteidigen es, als sei es die Wahrheit. Natürlich ist es dies niemals.“

„In deinem Fall waren die Tatsachen: Dad hat dich nicht umarmt, nicht mit dir gespielt, dich nicht festgehalten, dich nicht auf den Schoß genommen. Er ist deinen Bedürfnissen nach Zuneigung nicht entgegengekommen. Das waren die Fakten. Auf der Basis dieser Fakten hast du eine wesentliche Schlussfolgerung getroffen: ‘Dad liebt mich nicht.‘ Stimmt’s?“ Sie nickte.

„Die Tatsache, dass er deine Bedürfnisse nicht erfüllt hat, bedeutet jedoch nicht, dass er dich nicht geliebt hat. Das ist eine Interpretation, nicht die Realität. Er war ein sexuell verklemmter Mann, und Intimität war für ihn etwas Beängstigendes. Wir wissen das. Vielleicht wusste er nicht, wie er seine Liebe so zeigen konnte, wie du es gern gehabt hättest. Erinnerst du dich an das tolle Puppenhaus, das er dir einmal zu Weihnachten gebaut hat? Ich erinnere mich, wie er unzählige Stunden jeden Abend daran bastelte, wenn du schon im Bett lagst. Vielleicht war dies die einzige Möglichkeit für ihn, dir seine Liebe zu zeigen.“

„Ich will nicht etwa sein Verhalten entschuldigen oder das, was du gesagt und gefühlt hast, verneinen. Ich versuche nur zu verdeutlichen, dass wir alle einen Fehler machen: wir denken, unsere Interpretation entspreche der Wahrheit.“

„Deine nächste schwerwiegende Annahme“, fuhr ich fort, „basierte auf den Fakten und deiner ursprünglichen Interpretation, dass Dad dich nicht liebte. Sie lautete: ‚Es ist mein eigener Fehler. Es muss an mir etwas nicht in Ordnung sein.‘ Dies war eine noch größere Lüge als die ursprüngliche, findest du nicht?“ Sie nickte.

„Ist es nicht erstaunlich, dass du zu dieser Schlussfolgerung kommst? Kinder denken so. Nach ihrer Wahrnehmung dreht sich die ganze Welt nur um sie. Wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist, glauben sie immer, es sei ihre Schuld. Wenn ein Kind dies zum ersten Mal denkt, ist es sehr schmerzhaft. Um den Schmerz zu lindern, unterdrückt das Kind ihn, wodurch es jedoch noch schwieriger wird, diese Überzeugung wieder loszuwerden. Sogar als Erwachsene glauben wir noch:‘Es ist meine Schuld, und irgendetwas ist mit mir nicht in Ordnung.‘“

„Jedesmal, wenn in unserem Leben die Erinnerung an diesen Schmerz oder den damit verbundenen Gedanken ausgelöst wird, gehen wir emotional in unsere Kindheit zurück. Wir fühlen und verhalten uns wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal den Schmerz empfindet. Genau das passierte, als du sahst, wie meine Lorraine bei unserem Vater das Gefühl von Liebe weckte. Du warst 27 Jahre alt, aber in diesem Moment wurdest du wieder zur Zweijährigen, die sich ungeliebt fühlt. In diesem Moment hast du deine ganze kindliche Bedürftigkeit ausgelebt. Und du tust es noch immer, aber dieses Mal mit deinem Mann.“

„Die Überzeugung, auf die du all deine Beziehungen gegründet hast, basiert auf der Interpretation einer Zweijährigen. Sie hat keinerlei faktische Grundlage“, schloss ich. „Kannst Du das sehen, Jill?“ fragte ich sie.

„Ja, ich sehe das“, erwiderte sie. „Ich habe anscheinend aufgrund dieser unbewussten Annahmen einige ziemlich alberne Entscheidungen getroffen, oder?“

„Ja, das hast du. Aber du hast sie getroffen, als du unter Schmerzen littest und noch zu jung warst, um es besser zu wissen. Obwohl du die Schmerzen unterdrückt hast, um sie loszuwerden, blieb die Überzeugung auf einer unterbewussten Ebene in deinem Leben aktiv. An diesem Punkt entschloss sich deine Seele, einige Dramen in dein Leben zu bringen, damit du dir deine Überzeugung zu Bewusstsein bringen kannst und die Gelegenheit bekommst, dich einmal mehr für die Heilung zu entscheiden.“

„Du hast in deinem Leben die Menschen angezogen, die dich direkt mit deinem eigenen Schmerz konfrontieren und dich die ursprüngliche Erfahrung erneut erleben lassen“, fuhr ich fort.

„Genau das tut Jeff jetzt. Ich sage natürlich nicht, dass er das bewusst macht. Das ist nicht der Fall. Er ist wahrscheinlich über sein eigenes Verhalten ebenso verwundert wie du. Denk’ daran, es ist eine Interaktion von Seele zu Seele. Seine Seele weiß um deinen ursprünglichen Schmerz und darum, dass du ihn nicht heilen wirst, ohne noch einmal durch die Erfahrung zu gehen.“

„Wow!“ sagte Jill und atmete tief durch. Zum ersten Mal, seit wir über die Situation sprachen, konnte sie ihren Körper entspannen.

„Es ist sicher eine völlig andere Art, die Dinge zu sehen, aber weißt du was? Ich fühle mich irgendwie erleichtert. Es ist, als sei ein Gewicht von meinen Schultern genommen – einfach durch das Gespräch mit dir.“

„Das liegt daran, dass sich deine Energie verschoben hat“, erwiderte ich. „Stell dir vor, wie viel Lebensenergie du aufbringen musstest, um die Geschichte von Dad und Lorraine aufrecht zu erhalten. Außerdem war unendlich viel Energie nötig, um die Gefühle von Trauer und Ablehnung zu unterdrücken, die sich um diese Geschichte rankten. Die Tränen, die du gerade vergossen hast, haben dir ermöglicht, viel davon loszulassen. Du hast gemerkt, dass es sich ohnehin nur um eine Fantasie, eine Geschichte handelte. Welche Erleichterung das sein muss! Zusätzlich hast du noch viel Energie auf Jeff konzentriert – du musstest ihn anklagen, dich selbst anklagen, Opfer sein und ähnliches. Die Bereitschaft, die Situation neu und anders zu sehen, ermöglicht dir das Loslassen all dieser Energien. Sie durch dich hindurchgehen zu lassen. Kein Wunder, dass du dich leichter fühlst!“ lachte ich sie an.

„Und wenn ich Jeff einfach verlassen hätte, statt zu verstehen, was hinter der Situation mit ihm vor sich geht?“ fragte Jill.

„Deine Seele hätte jemand anderes in dein Leben gebracht, der dir helfen kann zu heilen“, erwiderte ich sofort. „Doch du hast ihn nicht verlassen, oder? Du bist stattdessen hierher gekommen. Du musst verstehen, dass dein Treffen mit mir kein Zufall ist. In diesem System gibt es keine Zufälle. Du – oder vielmehr deine Seele hat diese Reise und damit die Gelegenheit, die Dynamik der Situation mit Jeff zu begreifen, herbeigeführt. Deine Seele hat dich hierher geführt. Und Johns Seele stiftete zu diesem Zeitpunkt diese spezielle Reise an, sodass ihr gemeinsam hierherkamt. “

„Und was ist mit den zwei Lorraines“, fragte sich Jill. „Wie ist das vor sich gegangen? Das ist doch sicherlich auch kein Zufall.“

„In diesem System gibt es auch keine Zufälle. Stell dir einfach vor, deine Seele und die Seelen einiger anderer Menschen haben sich verschworen, um diese Situation zu erzeugen. Nun schau dir an, wie perfekt es passte, dass an der ursprünglichen Situation ebenso wie am aktuellen Konflikt jeweils eine Person namens Lorraine beteiligt war. Einen deutlicheren, vollkommeneren Hinweis hätte man sich kaum vorstellen können. Es ist nur schwer vorstellbar, das Ganze sei keine sinnvolle Fügung, findest du nicht?“

„Und was soll ich jetzt damit anstellen?“, fragte Jill. „Es ist wahr, ich fühle mich leichter. Doch was soll ich tun, wenn ich wieder nach Hause komme und Jeff treffe?“

„Es gibt nur sehr wenig, was du tun musst“, antwortete ich. „Von diesem Punkt an ist es eher eine Frage dessen, wie du dich fühlst. Spürst du, dass du nun kein Opfer mehr bist? Dass Jeff nicht mehr dein Peiniger ist? Siehst du, dass du exakt diese Situation brauchtest und wolltest? Spürst du, wie sehr dich dieser Mann liebt – auf der seelischen Ebene?“

„Was meinst du damit?“ fragte Jill.

„Er war gewillt, alles zu tun, was nötig war, um dich an diesen Punkt zu bringen. Dahin, dass du deine Überzeugungen über dich selbst in Frage stellst und erkennst, dass sie falsch sind. Er hat viel auf sich genommen, um dir zu helfen. Er ist von Natur aus kein grausamer Mensch, also muss es sehr hart für ihn gewesen sein. Nur wenige Männer hätten das für dich getan – auf die Gefahr hin, dich dabei zu verlieren. Jeff – oder vielmehr Jeffs Seele – ist ein wahrer Engel für dich. Wenn du das wirklich verstehst, wirst du ihm sehr dankbar sein. Außerdem wirst du nicht mehr länger für ihn ausstrahlen, du seiest nicht liebenswert. Du wirst vielleicht zum ersten Mal in deinem Leben imstande sein, Liebe zuzulassen. Du wirst Jeff verziehen haben, weil du dir klar darüber bist, dass nichts falsch gelaufen ist. Es war in jeder Hinsicht vollkommen.“

„Und ich verspreche dir“, fuhr ich fort, „dass Jeff sich in diesem Augenblick bereits verändert und sein seltsames Verhalten aufhört. Seine Seele spürt bereits, dass du ihm vergeben und deine falsche Wahrnehmung deiner selbst aufgelöst hast. Wenn du deine Energie änderst, ändert sich auch seine Energie. Ihr seid energetisch miteinander verbunden. Die physische Entfernung ist irrelevant.“

Ich kam dann auf ihre Frage zurück: „Du brauchst nichts Besonderes zu tun, wenn du nach Hause kommst. Ich möchte sogar, dass du mir versprichst, erst einmal überhaupt nichts zu tun. Auf keinen Fall solltest du Jeff von deiner neuen Sicht der Dinge berichten. Ich möchte, dass du siehst, wie sich alles allein schon durch deine Wahrnehmung eurer Situation ändert.“

„Du wirst außerdem das Gefühl haben, dass du dich selbst geändert hast“, fügte ich hinzu. „Du wirst dich innerlich ruhiger, mehr in dir selbst und entspannter fühlen. Du wirst eine innere Gewissheit ausstrahlen, die Jeff eine Zeit lang möglicherweise etwas seltsam vorkommt. Es wird eine Zeit brauchen, bis sich deine Beziehung zu ihm einrenkt. Möglicherweise ist es am Anfang noch etwas schwierig, doch das Problem wird sich nun lösen“, schloss ich voll Überzeugung.

Jill und ich sprachen noch häufig über die Einzelheiten ihrer Situation, bevor sie wieder nach England zurückkehrte. Es ist immer schwierig für jemanden, die Perspektive der Radikalen Vergebung anzunehmen, wenn er emotional stark belastet ist. Um so weit zu kommen, dass Radikale Vergebung wirklich stattfinden kann, muss man sich damit häufig erst einmal gründlich befassen und sich diese neue Perspektive immer wieder vor Augen führen. Zur Unterstützung zeigte ich meiner Schwester einige Atemtechniken, die ihr dabei helfen würden, Gefühle freizusetzen und neue Lebensmöglichkeiten zu integrieren. Außerdem bat ich sie, ein Arbeitsblatt zur Radikalen Vergebung auszufüllen (siehe Teil IV: Werkzeuge zur Radikalen Vergebung).

An dem Tag, als Jill abreiste, war sie offensichtlich etwas unsicher bei der Aussicht, in ihre alte Lebenssituation zurückzukehren. Nachdem sie sich am Flugsteig verabschiedet hatte, schaute sie noch einmal zurück und versuchte, so zuversichtlich wie möglich zu winken. Doch ich wusste, sie hatte große Angst, ihr neu gefundenes Verständnis wieder zu verlieren und erneut in die Dramatik der Situation verwickelt zu werden.

Offensichtlich verlief das Wiedersehen mit Jeff dann zufrieden-stellend. Jill bat ihn, sie nicht sofort darüber zu befragen, was mit ihr während ihrer Reise geschehen sei. Außerdem erbat sie sich während der nächsten Tage etwas Distanz, um sich einzufinden. Sie stellte jedoch sofort einen Unterschied bei Jeff fest. Er war aufmerksam, freundlich und einfühlsam – eher wie der Jeff, den sie aus der Zeit vor der traurigen Episode kannte.

Während der nächsten Tage sagte Jill Jeff, sie mache ihn nicht mehr länger für irgendetwas verantwortlich. Ebenso wenig wolle sie, dass er sich in irgendeiner Weise ändere. Sie habe herausgefunden, dass sie selbst für ihre Gefühle verantwortlich sei. Sie werde mit allem, was geschehe, auf ihre eigene Weise fertig werden, ohne ihm Vorwürfe zu machen. Sie ging nicht näher in´s Detail und versuchte auch nicht, sich für irgendetwas zu rechtfertigen.

Die Dinge liefen für einige Tage gut, und Jeffs Verhalten gegenüber seiner Tochter Lorraine änderte sich dramatisch. Tatsächlich schien in Hinblick auf ihre Beziehung alles wieder so zu werden wie früher. Doch die Atmosphäre zwischen Jeff und Jill war nach wie vor gespannt, und ihre Kommunikation blieb sehr eingeschränkt.

Etwa zwei Wochen später spitzte sich die Situation zu. Jill schaute Jeff an und sagte leise: „Ich habe das Gefühl, ich habe meinen besten Freund verloren.“

„Ich auch“, erwiderte er.

Zum ersten Mal seit Monaten verstanden sich die beiden. Sie umarmten einander und weinten. „Lass uns reden“, sagte Jill. „Ich muss dir sagen, was ich mit Colin in Amerika gelernt habe. Es mag sich für dich vielleicht zuerst etwas seltsam anhören, aber ich möchte es dir erzählen. Du musst es mir nicht glauben. Willst du es hören?“

„Auf jeden Fall“, erwiderte Jeff. „Ich weiß, dass da etwas Wichtiges mit dir passiert ist. Ich möchte wissen, was! Du hast dich sehr zu deinem Vorteil verändert. Du bist nicht mehr derselbe Mensch, der damals mit John ins Flugzeug stieg. Erzähle mir, was geschehen ist.“

Jill redete und redete. Sie erklärte die Dynamik der Radikalen Vergebung, so gut sie konnte – und so, dass Jeff sie verstand. Sie fühlte sich stark und aktiv. Sie war ihrer selbst sicher und zuversichtlich, dass sie alles richtig begriffen hatte. Sie war klar in dem, was sie darüber dachte.

Jeff, ein Praktiker, der allem, was nicht rational erklärbar ist, skeptisch begegnet, sträubte sich dieses Mal nicht. Im Gegenteil, er war sehr zugänglich. Er zeigte sich sehr offen für die Vorstellung, dass sich hinter der alltäglichen Realität noch eine spirituelle Welt befindet. Auf dieser Basis erschien ihm das Konzept der Radikalen Vergebung einleuchtend. Er akzeptierte es zwar nicht vollständig, war aber bereit zuzuhören und es zu überdenken. Und zu sehen, wie dieses Konzept Jill verändert hatte.

Nach ihrem Gespräch spürten beide, wie ihre Liebe wieder erwachte. Sie hatten das Gefühl, ihre Beziehung habe eine neue Chance. Sie machten einander jedoch keine Versprechungen und kamen überein, miteinander zu reden und zu sehen, wie ihre Beziehung sich entwickeln werde.

Tatsächlich entwickelte sich ihre Beziehung sehr gut. Jeff behandelte seine Tochter Lorraine noch immer sehr fürsorglich, aber nicht so sehr wie vorher. Jill merkte, dass sie sich kaum noch etwas daraus machte, – selbst wenn Jeff sich so benahm wie früher. Sie fühlte sich nicht mehr wie ein Kind, und sie ließ sich nicht mehr von ihrem alten Glauben über sich selbst leiten.

Innerhalb eines Monates nach ihrem Gespräch über Radikale Vergebung endeten Jeffs alte Verhaltensmuster Lorraine gegenüber. Lorraine wiederum rief nicht mehr so häufig an und kam nicht mehr so oft zu Besuch. Sie führte wieder ihr eigenes Leben. Alles renkte sich allmählich wieder ein, und ihre Beziehung wurde sicherer und liebevoller als je zuvor. Jeff war der zuvorkommende und einfühlsame Mann, der er von Natur aus ist. Jill war weniger bedürftig, und Lorraine war viel glücklicher.

Im nachhinein bin ich sicher: Jill und Jeff hätten sich scheiden lassen, wenn Jills Seele sie nicht nach Atlanta geführt hätte, um unser Gespräch zu ermöglichen. In einem großen Zusammenhang wäre dies sicherlich auch in Ordnung gewesen. Jill wäre jemand anderem begegnet, mit dem sie das Drama ihres Lebens inszeniert und eine weitere Gelegenheit zur Heilung gefunden hätte. So hat sie die Chance zu heilen wahrgenommen und ist in ihrer Beziehung geblieben.

Heute, viele Jahre nach dieser Krise, sind die beiden noch immer zusammen und führen eine glückliche Ehe. Wie wir alle inszenieren auch die beiden weiterhin dramatische Situationen. Doch sie wissen, wie sie diese als Gelegenheit zur Gesundung nutzen und so schnell und leicht wie möglich auflösen können.

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Auszug aus
Ich vergebe
Der radikale Abschied vom Opferdasein
ISBN 3-933496-80-2
© J.Kamphausen Verlag, 2004

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